Wenzel Mraček

DIE FARBEN DER BLAUEN STUNDE

Wenn auch die Blaue Stunde kein in der Wissenschaft gebrauchter Begriff ist, ist immerhin umgangssprachlich damit ein Phänomen bezeichnet, nach dem sich – kurz nach Sonnenuntergang – das Blauspektrum des Himmels unter Einfluss der Ozonschicht in ein Tiefblau verändert. Durch Reflexion erscheinen nun bodennahe Objekte in einer Art blauem Schatten, während in flachem Winkel einfallendes Restlicht das Gelb- bis Rotspektrum an Objekten noch für kurze Zeit sichtbar macht. 

Angesichts des malerischen Werks von Bianca Regl fällt auf, dass spätestens seit 2017 die Farbgebung in mehreren Serien figurativer Darstellungen auf Lichtverhältnisse solcher Art anspielt respektive Objekte und Körper in der (fiktiven) Annahme schwindenden Tageslichts dargestellt sind. Aus einer Reihe von Pflanzenmotiven – Lilie, Passionsfrucht, Orchidee u.a. – ist damit von Bild zu Bild auch ein zeitlicher Verlauf von eigentlich nur wenigen Minuten zu lesen, während dem die Motive in zunächst abgedunkeltem Violett mit noch deutlichen Rottönen erscheinen und sich Konturen am Hintergrund auflösen. In weiteren Bildern, später also, scheinen die Farben der Oberflächen vor zunehmend blauem Hintergrund zu verblassen und sind nun weißblau kontrastiert. Der bezeichnende Verweis einer dieser Tafeln – Study For An Orchid – lässt jedenfalls auf Regls Versuche und Variationen schließen, die pflanzlichen Strukturen unter Bedingungen einsetzender Dunkelheit wie durch malerische Analyse wiederzugeben.

Obschon Bianca Regls Malerei in weiten Bereichen als figurativ bezeichnet wird, bleibt dennoch die Frage um Grade oder Momente der Abstraktion – die ja, generell, eigentlich an keiner Form der Abbildung eines Motivs ausgeschlossen werden kann. Sei es an den hier behandelten Pflanzen oder den Körperbildern jüngeren Datums, tritt allemal deutlich der Impetus hervor, Motive in spezifischer Lichtsituation darzustellen und Deutliches an Undeutliches zu setzen. Wenn die Künstlerin nun das wahrzunehmende physikalische Phänomen schwindenden Lichts durch Farbwahl gewissermaßen konzentriert und betont, mehr oder weniger deutliche Konturen und Höhungen setzt, kann durchaus von Abstraktion gesprochen werden. In einem Gespräch mit Katerina Černy um die Frage nach Konkretheit und Abstraktion antwortet Bianca Regl dagegen eher pragmatisch: „Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die beiden nur durch die feine Linie der Rorschach-Frage getrennt: ‘Was kann ich noch erkennen? ’“

In diesem Gespräch erwähnt Bianca Regl, dass „eine der größten Stärken der Malerei“ ihre Kraft sei, „offen zu bleiben für alle Arten von Interpretationen / Betrachtungsweisen / Arbeitsweisen“, es erscheint ihr zudem, als sei die „Mehrdeutigkeit“ eine „verschwindende Qualität“. So ist auch ihr Umgang mit Bildtiteln bezeichnend für ihre künstlerische Haltung. Bildtitel führen naturgemäß zur Begrenzung oder Beschränkung der Interpretation. Insofern spricht Regl von „Indikatoren“ für Bildserien, die in der rezenten Ausstellung der Galerie Schnitzler und Lindsberger – vorwiegend von Porträts – etwa Truth is elswhere lauten. Entnommen einem Essay John Bergers über Velazquez ist, in Übertragung auf die eigenen Arbeiten, damit die Unmöglichkeit angedeutet, das wahre Bild anzulegen. Überhaupt aber finden sich in Regls Bildwerk immer wieder mehr oder weniger luzide Bezüge zur Kunst (und Kunstgeschichte) seit der Antike über Renaissance und Barock bis zu Paraphrasierungen des Impressionismus, der nicht zuletzt mit der Behandlung von Licht-Eindrücken identifiziert wird. In Serien wie Contraposto oder Crouching Venus (2020) ist – neben der oben beschriebenen Behandlung von Dunkelheit – sichtlich antike Plastik thematisiert und freilich die malerische Diskussion um Möglichkeiten einer Umsetzung oder Übersetzung in die Zweidimensionalität und den eigenen Duktus. Im Denken an Voraussetzungen der Fotografie (Eadweard Muybridge taucht ebenfalls als eine Art „Indikator“ im Werk Regls auf) und des Erscheinens ihrer Figuren aus einem farbigen Dunkel bestätigt Regl auch die Vermutung, ihre Motive stünden vor einem Gegenlicht, in dem quasi die Lichtquelle vom Objekt verdeckt wird. Unter dem Aspekt der Paraphrasierung wäre damit auch ein Moment gegeben, dass der Idee des barocken Chiaroscuro im Versuch entgegnet. Die außerbildlichen Lichtquellen der alten Malerei, die Inkarnat oder Körperteile, bestimmte Details einer Szene gegenüber dem umgebenden Dunkel hervorheben, sind in den Arbeiten Regls nahezu eliminiert. 

So erklärt sich der Ausstellungstitel ABOVE THE NIGHT. Wie die Geschichte der Kunst fließen auch ausgesuchte Texte zu Kunst und Theorie in die Motivation malerischer Ausführungen. ABOVE THE NIGHT ist ein von Regl gewählter „Zuschnitt“ eines Zitats des amerikanischen Kunsttheoretikers Thomas McEvilley, der in einem seiner Essays die Gesichts-Zeichnungen paläolithischer Künstler behandelt, die „so minimal und ungeformt“ dennoch ein Ich suggerierten, „das kaum sein Haupt aus der Nacht des Unbewussten erhoben hatte“.

In einer Sinnverknüpfung angesichts der aktuellen Serien von Gesichts-Porträts in der Ausstellung von Bianca Regl könnten die einerseits fragmentierten, andererseits wie gezoomt anmutenden Gesichter in einem Wechsel von Nähe und Distanz, von Totale und Detail, von betonter und diffuser Struktur eben erscheinen, als wären sie umgeben von einem Dunkel des Unbewussten. Zugleich – und vermittelt auch durch eine Malweise, die harte Konturen vermeidet –, bleibt einmal mehr die Frage um Wirklichkeitsgehalt, um gewollte oder intuitive Abstraktion gegenüber dem wahren Bild – Vera icon.