MOTIVISCHE REMINISZENZEN GESTISCHER MALEREI
Zur Synthese von Abstraktion und Figuration bei Bianca Regl
Das Festhalten der belebten und also bewegten Gestalt beschäftigt die Kunst seit jeher. Das leicht vorgestellte linke Bein, wie es schon die ägyptische Skulptur zeigt und von den archaischen Kuroi aufgegriffen wird, legt davon Zeugnis ab. Seinen lange verbindlichen Ausdruck findet es im Kontrapost, der Bewegung und Statik perfekt austariert, bevor es in der Darstellung des „fruchtbaren Augenblicks“ und weit ausholenden Gebärden kulminiert. Die Kunst der Neuzeit wird diese Entwicklung in der Abfolge von Renaissance und Barock wiederholen, die Erfindung der Fotografie einen analytischeren Problemzugang bzw. die Zergliederung von Bewegung in einzelne Stadien ermöglichen, wie es Eadweard Muybridge am Beispiel unterschiedlicher Bewegungsarten vorgeführt hat. Die Futuristen konnten hier ansetzen, um die Bewegtheit des Dargestellten auf die Spitze zu treiben. Der nächste Schritt in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Bewegung war, vom Dargestellten überhaupt abzusehen und stattdessen auf die Bewegtheit des Darstellers zu fokussieren, wie es in aktionistischen Formaten geschieht.
Bianca Regl ist sich dieser kunsthistorischen Traditionen wohl bewusst. Das zeigen alleine ihre Paraphrasen auf Gian Lorenzo Bernini und Muybridge. Die oben in aller Grobheit skizzierte Entwicklung wird in ihren Bildern in einem sehr feinsinnigen, genau kalkulierten Auspendeln der sich ansonsten diametral gegenüberstehenden Ausdrucksweisen Abstraktion und Figuration synthetisiert. Sie vermischen gestisch malerische Akzente, wie sie sich im Action Painting von Natur nachahmenden Pflichten frei gespielt und sich als unmittelbarer Ausdruck sui generis etabliert haben, mit mimetischen Tendenzen, ergeben ein so lebendiges wie bruchloses Ganzes, in dem die Bewegtheit des Dargestellten in der Bewegtheit der Darstellung gut aufgehoben ist. Dabei werden Pinselstrich und Malgrund motivisch gebunden, das Motiv andererseits von ihnen sichtbar durchsetzt. Abstraktion und Figuration verzichten auf ihre Alleinstellungsmerkmale, gehen auf in einem Illusionismus, der längst nicht mehr verhehlt, welchen Zwängen er den Bildgegenstand auszusetzen hat, um ihn als natürliches, möglichst lebendig wirkendes Erscheinungsbild festzuhalten, sich aber auch nicht einfach in einem freien Spiel an der Bildoberfläche wirksamer Kräfte erübrigt wie in den selbstreflexiven, metamalerischen Versuchen des 20. Jahrhunderts. Dieser Illusionismus ringt mit sich selbst und mit einer Gegenständlichkeit, die ihrerseits schon jede Unterordnung abgelegt hat, sich nicht mehr einfach bannen lässt, sich stattdessen – gerade ob seiner Lebendigkeit – entzieht. Damit führt Bianca Regl die Bildniskunst zu ihrer Ursprungslegende und Grundproblematik zurück.
Motor dieser Malerei ist ein recht lebhaft geschilderter Konflikt zwischen dem Körper des Bildgegenstands und jener Fläche, die Letzterem beizeiten – als Schatten seiner selbst – entgegentritt. Wie in Almost Like A Shadow, wo das Grundproblem des Bildnisses – wie nämlich Abbild und Abgebildetes in eine vernünftige Beziehung zueinander treten können – im Bild selbst unverstellt angesprochen wird und sich im Auseinanderdividieren zweier Darstellungsweisen wiederholt. Schwungvoll gemalt, gebannt in groben, aber pointiert geführten Zügen, ergibt sich das Porträt aus abgestuften Höhungen vor dunkelviolettem Grund, es steht oder schwebt neben seinem flachen, farblich gleich grundierten Negativ, wie dieses von einem fahlen Leuchten sanft umstrahlt. Das Divisionszeichen zwischen beiden Erscheinungsweisen bildet das Urelement des Abbildens: der Pinselstrich in seiner Rolle als Kontur.
(Plinius d. Ä. schildert in seiner Naturkunde die Erfindung des Porträts ja als Produkt von Abschiedsschmerz und Verlustangst. Kore, die Tochter des Töpfers Butades aus Sikyon, soll den Schattenwurf ihres in die Fremde aufbrechenden Geliebten bei Lampenschein an der Wand festgehalten haben.)
In ihrem emphatisch selbstbewussten, hellgrünen Leuchten gibt die Kontur in Regls Selbstporträt auch die Richtung vor, in welcher der dargestellte Blick knapp am Blick des Bildbetrachters vorbeischrammt, sich als eher schwieriger Dialogpartner erweist. Diese Verweigerungshaltung verstärkt die grundsätzliche Paradoxie gemalter Selbstobjektivierung, die aus dem prekären Zusammenfallen von Autorin und Bildgegenstand resultiert, während das Genre Selbstporträt Selbst- und Fremdbild gemeinhin im Sich-Treffen der Blicke aufeinanderprallen, unmittelbar miteinander kommunizieren lässt. Vor Erfindung der Fotografie hätte sich eine Malerin so nicht sehen können.
Die Vermeidung direkten Blickkontakts, die auch in anderen Figurendarstellungen wiederkehrt, ist nicht die einzige Art, in der sich das Dargestellte wehrt, bildlich festgehalten und somit stillgestellt zu werden. Der Blick in Regls Bildern bleibt maltechnisch oft eine Auslassung. Die Augen der Dargestellten gehen im dunklen Malgrund auf und sind damit die prominentesten Stellen, an denen die Kontur aussetzt und die Körperlichkeit von Regls Figuren transluzide wird. Das Durchscheinen des meist dunklen Malgrundes verleiht den Figuren eine Schemenhaftigkeit, lässt ihre Greifbarkeit schwinden. Damit ändert sich aber nicht nur ihr illusionierter Aggregatzustand.
Das Auflösen der Körper in so luftig wie präzise anmutende Verdichtungen lässt auch den illusionierten Bildraum, der andernfalls nur durch die oft unbequemen, manieristischen Posen der Figuren definiert wäre, expandieren, verleiht seiner Dunkelheit eine unauslotbare Tiefe. Vor dieser scheinen die gestischen, ebenso grell wie die vereinzelte Kontur in Almost Like A Shadow gefärbten, rein malerischen Interventionen in Gesture 1 und Gesture 2 weit mehr in einem nicht näher definierten Bildraum zu schweben, als an einer Bildoberfläche zu kleben. Mit ihrer Verräumlichung werden die mit breitem Pinsel dynamisch gezogenen Bögen und Schwünge motivisch lesbar. Die Bewegungsspuren, welche die Künstlerin mit ihrem Pinsel auf dem Bild hinterlassen hat, sind gleichzeitig als Bewegungsspuren der im Bild dargestellten Künstlerin interpretierbar, überschneiden die Bahnen doch stets eine Hand der Porträtierten. Freie Abstraktion wird für den Moment motivisch gebunden, der Körper im Bild zum Alter Ego eines bewegten Körpers vor dem Bild.
Die Pinselbahnen sind Abbildungen eines Vollzugs, die nicht nur zeigen, wo und wohin der Breitpinsel gezogen wurde, sondern auch die dabei investierte Kraft abschätzen lassen. Die Pinselbahnen bringen eine Bewegung ins Spiel, die sich motivisch in Verunschärfungen oder in den Nachbildern früherer Bewegungsstadien spiegelt. Die im Pinselstrich gebannte Bewegung der Künstlerin beim Malen verstärkt die Bewegtheit ihres bildlichen Gegenübers jedoch markant. Eine Bewegtheit, die seit dem Barock als körperlicher Ausdruck einer inneren Verfasstheit verstanden wird, wie Regl in ihren Bernini-Zitaten deutlich macht. In der Bildserie after Bernini liegen die Schwünge in unteren Malschichten, sie scheinen sich damit der schwindenden Figur ganz zu bemächtigen, statt auf einer Ebene vor ihr zu liegen. In der Figur der von Pluto entführten Proserpina findet ihr Zersetzen das geeignete motivische Pendant. Der malerische Gestus handelt in Vertretung des Unterweltfürsten, der die Dargestellte in ein Jenseits mitnimmt, tritt ihr aber nicht als etwas Fremdes gegenüber, sondern verkörpert die aus der Figur selbst ableitbare Bewegtheit, die Bernini in eine ausdrucksstarke Gebärde zu übersetzen wusste. Liegt Berninis Meisterschaft darin, das Abgleiten in ein Jenseits anzuhalten, womit das bildnerische Festhalten positiv – als äußerst raffiniertes Erhalten von Lebendigkeit – gewertet werden kann, wird die Rettung Proserpinas bei Regl als Illusion entlarvt, ihr Abgleiten nicht eigentlich gestoppt, sondern als unaufhaltbarer und gerade durch die Malerei bedingter Prozess gezeigt.
Mit der Figur der Proserpina, die bei Homer übrigens auch Kore heißt, ist ein Sujet gefunden, das wie der von Plinius erzählte Ursprungsmythos ein von Liebe getriebenes Festhalten mit der Unweigerlichkeit des Entschwindens konfrontiert. In Regls Bildern wird das rein Malerische an das Motivische rückgekoppelt: Aus Fläche wird Schatten, aus Pinselstrich emphatische Kontur oder Bewegungsspur. Auch der mithin dynamisierte Malgrund kehrt motivisch wieder – als geschwungenes Stück Tuch (after Muybridge). Die Malerei wird Unterwelt.
Ulrich Tragatschnig zur Ausstellung “Almost Like A Shadow”, Galerie Schnitzler&Lindsberger, Graz, 2019-2020